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Die Kunst, nicht gekränkt zu sein

Es gibt doch zu Allem und Jedem Bücher, die Rat wissen: «Die Kunst, aufzuräumen», «Die Kunst des klaren Denkens», «...des klugen Handelns» usw. Heute reihe ich mich hier einmal ein und frage: Wie wäre es mit der Kunst, nicht gekränkt zu sein? Wäre es nicht wunderbar, sich nicht mehr beleidigt oder verletzt zu fühlen? Zumindest nicht so schnell wie sonst? Hier also mein Versuch.

Foto: Bicho_raro auf iStock

Übersicht


1. Wir Menschen: Auch gekränkt liebenswürdig

Vorneweg: Wir Menschen sind auch noch gekränkt sehr liebenswürdige Geschöpfe! Das Bild oben gelte als Beweis! Betroffenheit und Leiden stehen dem Kind offen im Gesicht. Sie wecken unseren Wunsch, sein gekränktes Herz wieder zu heilen. Warum empfinden wir Erwachsenen gegenüber anders?


2. Kränkungen vergiften unseren Alltag

Als Erwachsene haben wir gelernt, unsere Emotionen zu verbergen: Vor allem Enttäuschungen und Kränkungen. Vielleicht wollen wir uns nicht so verletzlich zeigen. Vielleicht fürchten wir die Unbeherrschtheit von Gefühlen – bei uns wie bei anderen. Aber auch, wenn unser kulturell gut eingeübtes Verhalten unseren Alltag von schwierigen Emotionen entlastet. So kann es ihn doch auch gründlich vergiften. Unsere verletzten Gefühle kommen zwar nicht ans Tageslicht. Aber sie wirken sich in unserem Inneren unheilvoll aus und prägen dann auch die Gestaltung unsrer Beziehungen.


3. Einschüchterungen und Gesichtswahrung

Wer erinnert sich nicht an Begegnungen mit Menschen, die ihr gekränkt Sein einsetzten, um sich vor Kritik zu schützen, um die eigene Sichtweise durchzusetzen und sich eine überlegene Position zu sichern? Das konnte ein Elternteil sein. Eine Lehr-, Pfarr- oder andere Amtsperson. Oder auch noch ganz andere Menschen. Jedenfalls solche, von denen wir Unterstützung brauchten und die unsere Abhängigkeit in einschüchternder Art und Weise ausnutzten. Das ging von Larmoyanz über schlechte Laune bis zum Lautwerden, Entwerten, Drohen und Machtworte Sprechen. Und aus Sorge, die Kränkung weiter zu vergrössern, und die Folgen ausbaden zu müssen, übten wir uns dann in unendlicher Gesichtswahrung.


4. Management durch gekränkt Sein

Aber warum schreibe ich das alles in Vergangenheitsform? Vielleicht, weil es dies früher noch mehr und offensichtlicher gab. Manchmal aber sind diese Erfahrungen gar nicht so lange her. Und manchmal erlebe ich sie auch heute noch. Und manchmal bin es auch ich, der in diesen Umgang verfällt. Vor allem dann, wenn – konfrontiert mit einem fremden Blick – ich mich als jemanden sehen soll, der ich partout nicht sein will. Der ich auch meistens nicht bin. Manchmal aber eben doch. Weh tut es in beiden Fällen. Und auch wenn bei mir und anderen im Hintergrund jeweils so ein verletztes Kind zu vermuten ist: An der Gegenwehr, am beschriebenen «Management durch beleidigt oder gekränkt Sein» ist nichts mehr berührend.


5. Wir kommen um Kränkungen nicht herum

Wie schön wäre es, sich nicht so schnell gekränkt zu fühlen. Oder zumindest nicht in die entsprechende Gegenwehr zu verfallen! Das könnte unser Zusammenleben und -arbeiten doch regelrecht revolutionieren. Zwei Wege zur gesuchten Kunst müssen wir aber m. E. zuerst ausschliessen: Wir können Kränkungen nicht vermeiden. Auch in der Kirche nicht. «In der Kirche tut es immer noch etwas mehr weh!», höre ich hin und wieder klagen. Das ist nachvollziehbar. In der Kirche stellen wir aneinander hohe Ansprüche und wären am liebsten bereits im Paradies. Damit aber überfordern wir einander. Wir bleiben ja auch in der Kirche Menschen, die sehr unterschiedlich geprägt sind, deren Horizont beschränkt ist, die also immer nur mit ihren eigenen, geprägten Augen sehen können und im Laufe ihres Lebens höchstens noch eine oder zwei zusätzliche Sichtweisen dazu gewinnen. Unterschiede und Beschränktheit bleiben so eine unendliche Quelle möglicher Kränkungen. Kränkungen, die wir selber erleiden. Aber eben – auch anderen zufügen. Und darum muss hier auch noch ein zweiter Weg ausgeschlossen werden: Wir können nicht den anderen die Schuld geben, ihnen die Kränkungen vorwerfen und erwarten, dass sie damit aufhören. Wir können das ja auch selber niemandem versprechen.


6. Viele unterschiedliche Welten

Nun aber die gute Nachricht: Wenn wir damit einverstanden sind, unsere menschliche Unterschiedlichkeit und Beschränktheit zu akzeptieren, dann sind wir bereits auf halbem Weg zur «Kunst, nicht gekränkt zu sein». Denn: Welche ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir uns enttäuscht und verletzt fühlen? Es ist unsere Annahme, dass es nur eine Welt gibt. Dass wir alle die Welt auf die gleiche Art sehen und erleben und darum auch auf die gleiche Weise verstehen. Zumindest, wenn sich die anderen ein wenig Mühe geben und nicht dumm anstellen würden! Damit aber gehen wir letztlich davon aus, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen und verstehen! Diese weitverbreitete Annahme aber muss zu Enttäuschungen und Kränkungen führen, angesichts der oben angesprochenen unterschiedlichen Wahrnehmungen und unserer sehr eingeschränkten Fähigkeit, uns ein umfassendes Bild der Wirklichkeit zu machen oder auch nur andere Perspektiven zu verstehen.


7. Verständigung ist ein Ziel, keine Voraussetzung

Geben wir diese falsche Voraussetzung aber auf, könnte es uns gelingen! Dann wären wir – wie gesagt – schon auf halbem Weg! Statt Einverständnis, Harmonie und Einheit als moralische Pflicht voneinander einzufordern. Statt dass wir Widerspruch, Spannung und Konflikt als mangelndes Wohlwollen, als fehlende Bereitschaft zu verstehen, und als persönlichen Angriff auffassen. Stattdessen würden wir – genau umgekehrt – voraussetzen, dass unser Gegenüber in einer anderen Welt lebt als wir. Dass darum Missverständnisse, Kritik und Konflikte keine schnell zu beseitigenden Unfälle oder rasch auszukurierende Krankheiten darstellen. Diese wären uns dann vielmehr der zu erwartende Normalfall. Übereinstimmung, Harmonie und Einheit dagegen wäre uns das anzustrebende «Wunder»! Ein Ziel, das, um es zu erreichen, das Gehen eines Weges von uns erforderte, die Bereitschaft, uns miteinander auseinanderzusetzen, das Universum unseres Gegenübers kennenzulernen und das eigene zu erklären.


8. Der Kunst auf der Spur

Wie könnte es schliesslich aussehen, sich in dieser Kunst zu üben? Wenn wir verstehen, dass Kränkungen durch unsere eigenen falschen Erwartungen und überzogenen Ansprüche zustande kommen, könnte uns das helfen, unsere verletzten Gefühle besser einzuordnen und gelassener mit ihnen umzugehen. Vielleicht könnten wir dann auch unser gekränkt Sein vermehrt zeigen. Nicht als Larmoyanz, schlechte Laune, Ärger oder Drohung, die sich von Einschüchterung nicht unterscheiden lassen. Sondern als eine Verletzlichkeit, die sich der eigenen Beschränkungen und Einseitigkeiten, der eigenen Bedürftigkeit bewusst ist. Vor allem aber könnten wir vermehrt üben, uns miteinander offen auseinanderzusetzen. Miteinander zu sprechen statt übereinander. Wir könnten uns darin üben, Differenzen zu benennen und über sie in Gespräche zu geraten, in denen ein gegenseitiges Lernen wieder möglich wird.


Soweit also mein Versuch zur Lebenskunst, nicht gekränkt zu sein. Wahrscheinlich ist alles noch um einiges komplexer oder auch noch ganz anders. Haben Sie Einwände? Legen Sie Widerspruch ein! Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Das wäre sehr interessant zu hören. Melden Sie sich! Christian C. Adrian

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